Über Dr. Kermani ist öffentlich nicht so viel bekannt wie über andere Prominente, deren Grabstätte auf Melaten liegt. Er war Arzt und Geschäftsmann, hatte mit dem deutsch-iranischen Handel zu tun. Er gründete außerdem 1989 das Avicenna-Hilfswerk, das sich laut seiner Homepage um die „Durchführung und Koordinierung kultureller, medizinischer und karitativer Projekte und Aktivitäten“ kümmert. Das Avicenna-Hilfswerk betreut unter anderem ein Flüchtlingsprojekt im Südosten der Türkei; die Schülerinnen und Schüler der Kerpener Europaschule hatten im vergangenen Jahr 5000,- € gespendet, um das Jahresgehalt eines Lehrers zu sichern; hier kann man Genaueres über dieses Projekt lesen.
Einer größeren Öffentlichkeit ist Dr. Kermani bekannt geworden, als einer seiner Söhne bei seiner Beerdigung am 3. Dezember 2017 die Trauerrede hielt. Diese Rede wurde in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht – hier kann man sie nachlesen. Dieser Sohn ist Dr. Navid Kermani. Er ist habilitierter Orientalist, Romanschriftsteller, Publizist. 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er wurde von kulturell interessierten Kreisen als Kandidat für die Nachfolge von Joachim Gauck als Bundespräsident ins Gespräch gebracht. Bekanntlich wurde dann im März 2017 aber Frank- Walter Steinmeier gewählt.
Navid Kermanis Rede beschreibt sehr liebevoll aber auch kritisch den Lebensweg seines Vaters, das originelle Werben um seine Frau in Isfahan, seine Übersiedlung nach Deutschland, den Neuanfang und die Integration in der neuen Kultur, seine erwachte Liebe zu Gott und zum Rhein. Eine Stelle der Rede zeigt die starken Gefühle des Vaters als Kind, mit denen seine Söhne lange Zeit nicht gerechnet hatten:
Und unser Vater, dieser nachgeborene, von allen verhätschelte Junge unter den vielen Mädchen und Frauen, hatte sich in das Lamm verliebt, das ebenfalls in dem Innenhof lebte, und das Lamm sich offenbar in ihn. Denn überallhin, wohin unser Vater ging, auf den Platz, durch den Basar, selbst ins Klassenzimmer, wenn man unserem Vater glauben durfte, der neben allem anderen auch ein Geschichtenerzähler war, selbst ins Klassenzimmer folgte ihm das Lamm.
Navid Kermani
Gut, überallhin konnte unser Vater es doch nicht mitnehmen, das Lamm, offenbar nicht ins Klassenzimmer oder jedenfalls nicht jeden Morgen, denn eines Mittags kam er aus der Schule, und das Lamm war nicht mehr da. Jemand hatte es zum Schlächter geführt. Unser Vater behauptete – wie gesagt, ein Geschichtenerzähler vor dem Herrn –, unser Vater behauptete, dass er quer über den Platz in den Basar und durch halb Isfahan gerannt sei, heulend und schluchzend, um das Lamm zu retten, das sein Freund geworden war. Natürlich fand er es nicht, und kein Erwachsener begriff seine Tränen, als er in den Hof zurückkehrte, begriff den Rotz, der ihm aus der Nase lief, hörte sein Herzklopfen, achtete auf seinen anklagenden Blick. Es war doch nur ein Lamm, winkten die Erwachsenen ab, ein Lamm, wie man es jeden Festtag isst. Niemand dachte daran, dass für ein Kind ein Lamm mehr als nur ein Tier sein kann, nämlich ein Freund, ein Kind Gottes wie jedes andere Geschöpf, ein Sohn wie unser Vater selbst.
Ich sollte nicht zu viel in diese Episode hineinpsychologisieren, und doch ist es auffällig, dass ausgerechnet sie die prägende, die am häufigsten erzählte, gewiss auch ausgeschmückte Kindheitserinnerung eines Mannes war, der die Mitmenschen durch seinen unbändigen Willen, seinen durchaus auch rücksichtslosen Eigensinn, seine Durchsetzungskraft staunen machte. Unser Vater, der Berge versetzen konnte, wusste genau – tief in der Seele hatte sich die Erfahrung ihm eingebrannt –, dass der Mensch eigentlich ohnmächtig ist, dass er nichts in der Hand hat.
Grabstätte: Mittelachse, 69a